❧ Wer braucht denn hier gleich zu klauen? Romeo mochte keine Grossstädte und Stratos City war übertrieben gesagt ein ganzes Land. Überall diese Wolkenkratzer, dieser Staub, diese Menschen, diese Geschäfte und überall nur eingesperrtes Volk. Romeo sehnte sich wieder zurück nach Wiesenflur, seiner Heimatstadt, obwohl es wohl eher als Dorf bezeichnet werden müsste. Doch dort war die Luft um einiges besser. Hier war alles so stickig und Romeo fühlte sich ziemlich eingedrängt in dieser ganzen Menschenmasse. Darum hatte er sich auch in ein Kaufhaus verzogen, wo die Menschenmasse ein wenig 'gedämpfter' war. Auch wenn es hier relativ viel Betrieb gab.
Romeo betrachtete die Auslage. Er befand sich im untersten Stock des Kaufhauses, der sogenannten Foodabteilung, wie man wohl in moderner Sprache sagen würde. Pokémon-Futter war in vielen Schaukästen präsentiert, Kostproben wurden angeboten und viele Trainer und Koordinatoren wuselten umher um auch ja das beste Futter abzubekommen. Wie oberflächlich die doch waren. Romeo atmete entrüstet einmal tief aus. Naja, seinen Auftritt hatte er jetzt auch gehabt. Interessiert betrachtete er eine hübsche Frau am Ende des Ganges, ein kleines labiles Blondchen mit ihrem Picochilla auf den Armen. Naja, dieses Pokémon würde wohl wirklich verhätschelt werden. Ob er vielleicht? Plötzlich entdeckte er einen riesigen Flecken auf dem Shirt der Frau. Dieses Monster hatte wohl Schweissausbrüche wie ein 100-Kilo-schwerer Mann, so erschien es Romeo. Nee, das war absolut keine Preisklasse für ihn. Auch wenn ihr Gesicht eigentlich noch hübsch war, aber wer will schon baden gehen?
Plötzlich fiel sein Blick auf ein kleines blondes Mädchen, welches sich durch die Gänge des Marktes flanierte, aber eher uninteressiert an der Auslage war. Sie überraschte ihn irgendwie, obwohl sie nicht besonders hübsch war. Naja, eher gewöhnungsbedürftig, aber interessant. Er beobachtete sie unauffällig und sah, wie sie sich suchend umsah, dann lief sie einige Schritte nach vorne und Romeo musste sich ein Lächeln verkneifen. Hatte er gerade ihre Hand an einem fremden Pokéball gesehen. Was für eine gerissene alte Ziege, die doch war. Aber hatte das Mädchen wohl vergessen, dass die Supermärkte immer mit Kameras gesichert waren? Anscheinend fiel es ihr im nächsten Augenblick ein, denn man spürte, wie sie kurz innehielt, dann zurückblickte und den Ball schnell in ihrer Taschen verschwinden liess. Wie gerissen sie doch war, denn geradewegs stürmte ein Mann auf sie zu. Wenn das doch nicht der Hausdetektiv war. Dieses Mädchen war ja schön ein Pechvogel, aber eben blond, blau, blöd. So waren die Frauen halt, geradewegs gut genug, um die Küche sauber zu halten und zu kochen. Auch wenn dieses Mädchen wohl eher herumlief, als würde sie einen auf Junge tun. Ihr Styling war ja unter aller Frau und erinnerte ihn stark an ein Junge jünger als er. Naja, wenn es ihr gefiel, ihm gefiel es natürlich nicht. Zurück zum eigentlichen Thema. Das Mädchen versuchte möglichst unbedingt rüberzukommen, doch Romeo wusste, dass sich hinter der schlechteingeübten Fassade ein nervlich angespanntes Mädchen befand. Ihre Mundwinkel zuckten nervös, wenn das nicht ein Fehler war. Der Hausdetektiv hatte sicherlich die Bänder gesehen, da würde das grösste Lügenmärchen nichts nützen. Wie doof war die Kleine eigentlich? Irgendwie kam sie ihm erstaunend bekannt vor. Irgendeine aus seiner alten Schule war auch so gewesen, irgendwie dumm. Aber nicht so auf die normale Weise dumm, einfach blöd. Ach, das konnte man nicht beschreiben.Der Hausdetektiv hatte das Mädchen nun am Arm gepackt und sie beteuerte weiterhin ihre Unschuld indem sie die Hände weit auseinanderklappte. Meinte sie wohl, dass er so den Pokéball nicht sah, den sie gestohlen hatte. Hypnose?! Nee, dafür war sie entscheidend zu blöd. Auch wenn sie ihm irgendwie leid tat, also kein richtiges Mitleid, einfach so eine normale Verbundenheit, die er mit der Kleinen spürte. Da sie ja auch irgendwie auf der "dunklen" Seite des Mondes lebte. Naja, obwohl, sie wohnte wohl eher hinter der dunklen Seite des Mondes. Was für eine Metapher! Romeo musste sich selbst lächelnd auf die Schulter klopfen. Diese Witze zu einem Zeitpunkt, an dem er eigentlich längst hätte eingreifen müssen, er amüsierte sich wie immer königlich.
Doch langsam war es genug, sagte ihm seine innere Stimme, seine Vernunft, seine Spassbremse. Ach wie er manchmal diese Stimme hasste. Sie tauchte zwar nur äusserst selten auf, doch dieses dumme Blondchen erschien ihr wohl recht dafür. Und so näherte er sich mit schnellen Schritten dem Geschehen, ohne aber die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Er roch die Angst des Mädchens, oder war das nur das billige Eau de Toilette des Detektiven? Irgendwas mit Rosen, total verweiblicht und doch irgendwie schmierig. In Romeo drang der Würgereiz durch, doch er vergass sich und konzentrierte sich voll und ganz auf die Situation direkt vor ihm. Das Mädchen war mit einem Arm beim Detektiven, der Pokéball war in der ausgestreckten Hand ebenfalls des Polizisten. Wollte er ihn etwa anbieten gleich wieder zu klauen. Was für ein lausiges Personal. Brauchte sie da wirklich seine Hilfe?
Anscheinend schon, denn sie wollte den lügnerischen Weg wählen, und nicht den gewaltsamen. Wie doof war eigentlich die? Die Beweise lagen doch eindeutig auf der Hand, auf Band und Zeugen gab es auch. Denn in einem so grossen Kaufhaus gab es immer irgendwelche Schnüffler und dieser dicke war nicht der einzige. Auch sogenannte "Kleinkopfgeldjäger" waren immer wieder aus auf solche billigen Kleinkriminellen. Aber das Mädchen schien wohl noch nicht wirklich viel Erfahrung darin zu besitzen, wie man eine Person bestahl.
Der Mann wurde langsam harscher und rüttelte das Mädchen am Arm. Jetzt war es höchste Zeit einzugreifen, bevor der Rummel zu gross wurde.
Romeo zog aus seiner Tasche ein kleines graues Bällchen hervor. Es sah aus wie ein rundes Jojo, aber die Wirkung war meist fataler. Mit einem letzten Blick prägte er sich den Weg genau ein, bevor er die Kugel auf den Boden warf. Und sich der Raum mit stickigem grauen Rauch füllte. Mit schnellen Bewegungen stürmte er los, schnappte sich mit einer flinken Handbewegung den Pokéball, steckte ihn sich in die Tasche und entriss dem Polizisten das Mädchen. Mit einer schnellen flüsternden Bewegung hauchte er mit säuselndem Ton ihr zu: "Keinen Murks und keine Bewegung. Folge mir einfach!" Er wusste nicht, ob sie ihn verstand, ehrlich gesagt, war es ihm aber auch egal, denn sie durften keine Zeit verlieren. Der Rauch begann sich bereits zu lichten und die Schreie und das Stöhnen der Menschenmenge schien den Effekt schneller zu verringern, als er gedacht hatte. Mit einem Schlag schlug er die gläserne Drehtür des Einkaufszentrums auf und zog das Mädchen hinter sich her, ins Gedränge, weg vom Detektiv, in Sicherheit.

❧ Ungedacht, unbedacht und Überrascht? Wer hätte das wohl gedacht, dass sich hinter diesem Blondchen eine solche Tusse verbarg. Ja, Romeo kannte diesen Typus Frau. Sie gaben sich cool, wollten alles immer kalt betrachten, sich über jede Bewegung des anderen lustig machen und sie waren ja auf niemanden angewiesen. Hingegen wusste er genau, was sich verbarg. Ein schüchternes, nicht akzeptiertes Mädchen, welches sich selbst nicht attraktiv fand und einen auf kalt machte, um nicht verletzt zu werden. Schadenfreude würde es wohl auch haben, aber darüber wollte er jetzt nicht nachdenken. Das würde sein Bild von ihr nicht verbessern. Ob er sie überhaupt auf Team Sky ansprechen sollte? Wenn es um die Auswahl von neuen Mitgliedern und deren Ausbildung ging, so war Romeo zwar nicht an Stärke interessiert, sondern meist mehr an Charakter, denn an der Stärke konnte man feilen. Aber irgendwie fühlte er sich nicht dazu in der Lage, die ganzen Hintergrundgefühle eines Mädchen zu analysieren und ihr durch diese Dilemmen durchzuhelfen. Nein, auf so eine hatte er wirklich keinen Bock. Warum hatte er sie überhaupt gerettet? Hatte er Mitleid mit ihr? Oder war es einfach ihre Art gewesen, die ihn etwas fasziniert hatte. Die Verbundenheit als Kriminelle untereinander?
Trotzdem wollte er dieses Mädchen so einfach jetzt auch nicht ziehen lassen, schliesslich hatte er sie gerettet. Ob er sie vielleicht auf irgendeine andere Art ausnutzen konnte? Vielleicht sie bestehlen? War das etwas? Sie sah nicht sonderlich stark aus. Oder sich von ihr einladen lassen? Dann wären wenigstens seine Bedürfnisse befriedigt.
Und so sagte er ziemlich verärgert: "Nein, ich glaube der glänzende Ritter steht mir nicht so wirklich, tut mir leid. Da musst dir einen anderen suchen. Sie schien ihm ziemlich unreif, auch wenn sie sich betont cool und lässig geben wollte, aber Romeo bemerkte eindeutig die Züge um ihre Augen und um ihren Mund. Wie peinlich war das denn? Schauspielerin wurde sie sicherlich auch nicht.
Doch wie würde es jetzt wohl weitergehen? Romeo war ein wenig verwirrt. Er hatte nicht mit einer solchen Tusse gerechnet und jetzt würde er sich wohl wieder gegen den Kopf schlagen müssen, hätte er sie doch nicht gerettet. Ach, das war blöd gelaufen, ultrablöd. Aber was sollte er jetzt bloss tun? Er konnte auch nicht genau seine Gefühle beschreiben, zum einen war dieses Mädchen überhaupt nicht sein Fall, aber dann gab es wieder diese Momente, in denen er sie irgendwie speziell fand, anderst als die abgehobene Menge, die sich auf ihre Arbeit und ihren Lohn und auf das Geld beschränkte. Auch wenn sie wieder klaute, obwohl sie ja dann wieder ins gleiche Horn bliess. Ach, wie schwierig war doch dieses Leben auf dieser Erde. Überall gab es nur Probleme, menschliche, materielle und sentimentale Probleme. Dieses ganze Leben hier war nur ein einziges Problem.
Romeo atmete einmal tief und aus und betrachtete die geschäftigen Menschen, die die eine Strasse hin und her liefen. Was wohl diese Menschen dachten? Ihr begrenztes Leben mit ihren festgesteckten Zielen und dem Feld zwischen diesen Punkten, ihrem sogenannten Leben. Doch er hatte neue Ziele, neue Wünsche und ein Team, welches hinter ihm stand in allen seinen Belangen und Zielen. Romeo bemerkte von selbst, dass er wieder vom eigentlichen Problem abdriftete und sich von Shiro wenigstens gedanklich entfernt. Er betrachtete sie kurz, aber nur so, dass sie nicht gleich wieder das Gefühl hatte, dass er sie anstarrte. Irgendwie fühlte es sich falsch an, sie jetzt einfach stehen zu lassen, aber irgendetwas hielt ihn zurück. Und so versuchte er es mit ein wenig Smalltalk, halt auf seine Art: "Und jetzt? Wir sollten etwas trinken gehen, ich bin ganz durstig. Und dir würde etwas Warmes sicherlich auch gut tun." Abschätzend betrachtete er sie kurz von oben bis unten, bevor er seinen Blick dann wieder auf ein Hochhaus war, welches in der Nähe war. Das Hochhaus war wirklich gross und es ragte in den Himmel hoch. Durch viele Fenster konnte man das geschäftigte Treiben darin betrachten. Ob es wohl auch ein Café in diesem Gebäude gab? Oder wollte man doch lieber in eine Eisdiele an der Ecke gehen?